© Paula Holzer - www.paula-holzer.com

    Mit Flügeln an den Füßen

    Pilgern  auf dem Franziskusweg in Italien

    900 km Pilgerweg führen durch die Regionen Toskana, Umbrien, Latium, Abruzzen, Molise und Apulien bis auf den Sporn Italiens, den Gargano nach Monte S. Angelo zur Grotte des Erzengels Michael, bekannteste und älteste Pilgeretappe für Jerusalempilger, die von hier aus mit Schiffen übergesetzt haben.

    Nach dem Pilgerführer „Der Franziskusweg“, („Di qui passó Francesco“), hat nun Angela M. Seracchioli mit dem  zweiten Teil des Franziskusweg- Pilgerführers „Con le ali ai piedi“, ein noch stilleres, unberührteres, mystischeres Stück Franziskusgeschichte erfahrbar gemacht. Wie oft war der Heilige wohl unterwegs gewesen auf diesen Wegen zu jener heiligen Grotte, die er nie  betreten hat, weil er sich nicht für würdig genug erachtet hat? Wie oft ist er die 86 Stufen hinuntergestiegen, um vor der Grotte an seinem Altar zu beten, zu verweilen, stille Zeit zu verbringen, zu meditieren, sich Gott hinzugeben? Schüttelfrost hat ihn gebeutelt, betend hat er geweint, geschluchzt, so stark hat dort unten ihn Demut erfasst. Und auch mich erfasst „es“ jedes Mal, wenn ich abwärts steige. Und ich kann es nicht erklären. „Spüren ist franziskanisch“, sagt neben mir die junge Klosterfrau, die meine tiefe Rührung teilt, „und studieren benediktinisch“.

    Sie sind allgegenwärtig auf diesem langen Pilgerweg:
    Franziskus vor allem und überall, dann, im zweiten Teil auch der Erzengel Michael mit seiner starken Energie.

    Der erste Teil des Pilgerweges, vom Felsenkloster La Verna in der Toskana, in dem Franziskus stigmatisiert worden ist, über Assisi, wo er geboren wurde und begraben liegt, durch das Rietital, in dem jeder Winkel Franziskusenergie atmet, bis nach Poggio Bustone, zu jener Einsiedelei, in der Franziskus seine Sünden erlassen worden sind, ist mittlerweile schon recht bekannt. Ein Pilgerweg, der an allen bedeutenden Einsiedeleien, Klöstern, Felsschluchten und stillen Orten des Hl. Franziskus vorbeiführt. Ein Weg, der durch die stille, unberührte mittelitalienische Hügellandschaft, durch verschlafene Dörfer und quirlige Städtchen führt. Es ist die Strecke, die gut markiert ist, mittlerweile auch schon recht bekannt ist und von vielen Menschen entdeckt worden ist.

    Anders der zweite Teil, der neben dem Hl. Franziskus vor allem dem Erzengel Michael gewidmet ist. Nach mühsamen Recherchen und manchmal fast aussichtsloser Suche nach verbindenden Wegen zu nachgewiesenen Stätten, an denen Franziskus und der Erzengel Michael besonders präsent sind, hat nun Angela Maria Seracchioli im Mai 2011 den Pilgerführer „Con le ali ai piedi“ herausgeben können. Es war ihr ein großes Anliegen, die Orte des Hl. Franziskus und des Erzengels Michael auf möglichst stillen, unberührten Wegen zu verbinden, abseits von Straßenasphalt und Verkehrslärm. Noch einmal 500 km zum ersten Teil dazu sind es geworden, aufgeteilt in 25 Tagesetappen. Es gibt noch keine Wegmarkierungen, noch fehlen die liebevoll gemalten gelben Tau und Pfeile, die Sicherheit geben, auch Wegweiser oder Alpenvereinsmarkierungen gibt es kaum. Es gibt einfach Wege, kreuz und quer, so, wie die Menschen sie dort brauchen. Dies macht das Pilgern hier noch einmal mehr zu einem Abenteuer, bringt den Pilger noch einmal mehr an seine Grenzen. Mit dem Führer in der Hand, einem guten Gespür für Orientierung und einem guten Draht zu „Bruder Franz“ aber, wird der Weg zu einem ganz besonderen Erlebnis. Die Einheimischen nach dem Weg zu fragen ist mühsam, denn sie kennen die Wege als Wanderwege nicht und reagieren ganz entsetzt, wenn sie erfahren, dass man durch die Berge gehen möchte. Viel zu gefährlich sei dies und zu anstrengend und wieso über die Berge, wenn es doch ganz einfach geht, hier, die Straße entlang.

    Der Weg ist  anspruchsvoll, fordernd und anstrengend. Dafür wird der Pilger aber entschädigt durch einmalig unberührte Natur. Stundenlange Einsamkeit führt oft durch sprödes, karg und unwirtlich verwachsenes, fast undurchdringliches Dickicht. Stundenlange Einsamkeit führt durch Täler und über Hochebenen, die fast schon tibetischen Charakter haben. Oder aber man fühlt sich eine Etappe lang mitten in den Hochalmen von Südtirol oder auf einem ausgesetzten Dolomitensteig. Abwechslungsreich, spannend, hinter jeder Wegbiegung, nach jedem Tal ist die Landschaft wieder neu. Kaum befahrene Straßen führen durch die Hügellandschaft und über die Pässe, schmale Pfade durch Schluchten und über Hochebenen. Wilde, raue, abweisende Etappen wechseln mit sehr lieblichen, fruchtbaren, romantischen. Natur pur. Unberührt und wild. Tiefe Harmonie ist spürbar und das Einssein mit dem allumfassend Göttlichen, das immer dann in besonderer Weise durchdringt, wenn Entfaltung und Werden, Vergehen und Sterben ihrem natürlichen Rhythmus folgen dürfen, ohne dass der Mensch gestaltend eingreift. Urlandschaften und liebevoll vom Menschen gepflegte Kulturlandschaften wechseln einander ab. Es gibt keine von Profitgier vergewaltigten Landstriche und Monokulturen. Hier scheint die Welt sich ein bisschen langsamer zu drehen.  

    Wird hier die Zeit nach einem anderen Maßstab gemessen? Arbeitet man hier um zu leben und lebt nicht um zu arbeiten? Es sind liebevolle, aufmerksame, sehr, sehr gastfreundliche Menschen. Je weiter man in den Süden kommt, umso herzlicher und offener sind die Begegnungen. Und es sind in besonderer Weise die Begegnungen, die diesen Pilgerweg so einzigartig machen. Es sind neugierige Menschen, denen die vorbeiziehenden Fremdlinge nicht egal sind. Sie wollen wissen, nehmen teil, sind besorgt und wollen sich kümmern. Sie fühlen sich verantwortlich für das Wohlergehen von Menschen, die solche ‚Strapazen‘ auf sich nehmen, um Gott zu suchen. Und geben gerne ihre Anliegen und Sorgen dem Pilger mit auf seinem Weg, damit dieser sie dann, in der Grotte, Gott hinhalten möge. Es sind tiefgläubige Menschen, die in ihrer Einfachheit den Glauben zu leben scheinen. Und sie haben ihre Sorgen. Die Mutlosigkeit der jungen Menschen hier, die, obwohl gut ausgebildet, nicht Kraft und Mut haben um unternehmerisch tätig zu werden. Die Arbeitslosigkeit und die Abwanderung aus den ländlichen Gegenden, die Hoffnungslosigkeit und Ohnmacht, weil ganze Landstriche von korrupten Politikern vergessen zu werden scheinen. Die Herzlichkeit der Menschen, die hier am Pilgerweg leben und von diesem Weg noch gar nichts wissen, ist überwältigend. Schnell bin ich als Fremde Mittelpunkt und als Teil der Familie am Abendtisch keine Fremde mehr. Wenn der Pfarrer sich um eine Unterkunft kümmert, die alte Frau vom Weinberg heraus eilt, um der Vorbeiziehenden ein paar frisch geerntete Trauben zu schenken,  oder der Bürgermeister in die Dorfbar geholt wird, um der Freude Ausdruck zu verleihen, weil dort eine Pilgerin sitzt, dann sind dies bewegende, berührende Augenblicke. Wenn Kinder neugierig-schüchtern das Gespräch suchen, das alte Ehepaar am Wegrand zum Kaffee trinken und Kekse essen einlädt, weil es im Dorf kein Kaffeehaus gibt und dann noch schnell belegte Brote einpackt, weil das nächste Geschäft so weit weg ist, macht diese Herzensgüte weich, offen und dankbar. Sie überlegen nicht lange, es ist selbstverständlich gelebte Hilfsbereitschaft und Mitgefühl, die auf ein „danke“,  „…aber für was denn?“ antwortet. Die Einfachheit der Menschen hier berührt und Sehnsucht entsteht nach einer Zeit, in der die Menschen auch bei uns noch so viel Zeit hatten.

    So langsam wird es den Menschen dort wohl bewusst werden, dass in diesem Pilgerweg eine kleine Chance liegen könnte. Und es gibt in mehreren der kleinen Dörfer und Städtchen Visionäre, die sich um diesen Weg kümmern wollen, die Pinsel und gelbe Farbe kaufen wollen, um eine Etappe pilgermäßig zu gestalten. Manche wollen Zimmer herrichten, damit die Pilger auch in ihrem Dorf eine Schlafgelegenheit finden.

    So muss sich dieser Weg erst bewähren. Er ist sehr anspruchsvoll und anstrengend, fordert Körper und Geist. Es ist kein Weg, der mit Straßenschuhen gegangen werden kann. Es ist kein Weg der Oberflächlichkeit.  Er geht in die Tiefe, macht nachdenklich, zufrieden und dankbar, und jeder, der ihn geht, kehrt wohl verändert nach Hause zurück.

    >> zurück